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Dr. Michael Fehr

"Im Dickicht der Motive"
Künstlichkeit, Kunst und Kommunikation im Ruhrgebiet



veröffentlicht in: "Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur"
Heft 1, Essen 2000, 44-50

Michael Fehr
IM DICKICHT DER MOTIVE
KÜNSTLICHKEIT, KUNST UND KOMMUNIKATION IM RUHRGEBIET

I. Image und Selbstbild

Begreift man Ästhetik als eine Form der Reflexion, die die Struktur der Wahrnehmung, also die Bedingtheit des Erkennens und Urteilens zu be-stimmen versucht, so steht man im Ruhrgebiet in einem reichen Feld. Denn in Begriffen einer idealistischen, wie immer auf Einheit und Harmonie ab-zielenden Bildvorstellung war diese Region nie zu fassen. Der deutlichste Hinweis darauf ist, daß es trotz vielfältiger Bemühungen bis heute nicht ge-lang, ein allseits akzeptiertes Image des Ruhrgebiets zu entwickeln. Alle ein-schlägigen Versuche erwiesen sich als unzureichend oder schlugen fehl: Sei es nun, daß keine Stadt im Revier den Anspruch aufgeben wollte, die erste unter den gleichen und insoweit das Motiv für die Image-Bildung zu sein; sei es, daß niemals entschieden werden konnte, in welchem Verhältnis Landschaft und Industrie, Natur und künstlich Geschaffenes, Mensch und Um-welt gesehen werden könnten, oder sei es einfach, daß schönen Bildern aus dem Revier niemand rechten Glauben schenken wollte, Bilder seiner häßlichen Seiten aber unterdrückt wurden oder so schön gerieten, daß sie als Klischees des Häßlichen eingesetzt werden konnten. Vor allem in der Region selbst wußte man nur zu genau Bescheid, war auf der Hut und lehnte solche Bilder als Zweckbehauptungen dafür angestellter Werber oder selbstbeauftragter Aufklärer ab.

Wenn auf diese Weise kein zutreffendes Bild vom Ruhrgebiet entstehen oder durchgesetzt werden konnte, so konnte sich andererseits aber auch kein Selbstbild entwickeln, das mit - welchem Vorzeichen auch immer versehen - innerhalb des Reviers als gemeinsame Verständigungsbasis akzeptiert wor-den wäre. Vielmehr blieb bei fast allen Versuchen der Identitätsbildung of-fen, ob und wie jene zwei Grundhaltungen miteinander versöhnt werden könnten, die sich im und zum Ruhrgebiet herausgebildet haben; wider-sprüchlich dem Äußeren nach, doch gleichermaßen widerständig und um Identität bemüht; die eine erduldend abwartend, ins Lokale geradezu verkrallt, bäuerlich im Kern; die andere eine des großen Anspruchs, in die Region verschlagen, nach außen orientiert und dort bewandert, alles für machbar haltend, frühbürgerlich im Habitus. Zwischen diesen beiden Haltungen wurde und wird das Selbstbewußtsein und das Image des Ruhrgebiets immer wieder zerrieben und verdankt sich als Lösung ihres Widerspruchs ein Drittes: die Hoffnung, das Jetzt, das Gegebene in einem Besseren aufheben zu können.

So scheiterten bislang alle Bilder vom Revier in fundamentaler Weise am Umstand, daß nahezu alles, auf das sie sich bezogen oder das sie wie immer dokumentierten, über kurz oder lang nicht mehr existierte. Wo gestern noch die Tauben flogen, steht nun "wertkauf", und ein paar Kilometer weiter gilt als nicht weiter bemerkenswert, daß ein ganzer Stadtteil in der Erde versinkt und der Kanal, an dem er lag, nun den endgültigen Horizont bildet. Wenn es ein kontinuierendes Moment im Ruhrgebiet gibt, so ist es die permanente Veränderung und die mit ihr verbundene Gewißheit, in einer unfertigen, vorläufigen, jederzeit gemäß des wirtschaftlichen 'Auf und Ab' widerrufbaren Situation zu leben: in einem mehr oder weniger unüberschaubaren Provisorium ohne Begriff von sich selbst, auf buchstäblich unsicherem Boden.

Es kann daher nicht überraschen, daß der Blick von außen immer wieder bestimmend wurde zumindest für die Diskussion darüber, wie denn das Ruhrgebiet zumal in künstlerischer und kultureller Hinsicht zu sehen und einzuschätzen sei. Und es ist bemerkenswert, daß der Blick von außen, wo er die Situation des Ruhrgebietes zutreffend erfaßte, in wichtigen Aspekten mit dem Blick derer übereinstimmte, die innerhalb des Reviers als Außen-seiter galten: mit dem Blick der - seien wir ehrlich - wenn nicht verhaßten, dann zumindest wenig geliebten Künstler und Intellektuellen. Dabei kann man zunächst als ikonographisches Motiv, dann a1s formale Idee und schließlich als an strukturellen Fragen interessierte, konkrete Motivation eine durchgängige Thematisierung des Transitorischen feststellen, ein Inter-esse an der Dynamik von Arbeitsprozessen und dem Zusammen- oder Ge-geneinanderwirken verschiedener Kräfte, an Bewegung überhaupt oder, mit einem Wort, an eben jenen Phänomenen, die die Bedingtheit des Erkennens und Urteilens zur Anschauung bringen.

II. Industrielandschaft als Motiv und Apotheose der Industrialisierung

Im Unterschied zu anderen Landschaften, die als bestimmte oder gedachte zum Sujet für die künstlerische Arbeit wurden, war und ist das Ruhrgebiet kein Thema als eine bestimmte, gegebene Situation, die wie immer zur Darstellung gebracht werden könnte. Vielmehr zielte die Auseinandersetzung mit dem eigentümlichen Städtehaufen entlang der Ruhr, mit dem Durcheinander von Natur und Technik fast immer darauf ab, eine dynamische Situation zur Anschauung zu bringen oder aus ihr Dynamik abzuleiten.

So schrieb Werner Graef in einem häufig zitierten, doch in diesem Sinne wohl selten beachteten Text (der zu allem noch das Motiv des Reisenden aufnimmt):

"Was einem fremden Reisenden auf der Bahnfahrt etwa von der Ruhrmün-dung über Essen bis ins Westfälische hinein als ein sinnverwirrendes Chaos erscheinen mag, ist ja in Wahrheit ein echter Organismus von einmaliger Großartigkeit. Die Wildheit dieses Landes mag ihn ängstigen, so manche scheußliche Einzelheiten erschrecken, schwarzer Schmutz und grauer Dunst mögen abstoßen, trübe und trostlos stimmen. Mancher ist froh, wieder hinauszukommen. Der Künstler empfindet anders. Ihn packt diese unverfälschliche Größe und Weite, dieses echte Leben des Ganzen. Der gestaltende Künstler wird trachten, erkannte Mängel, soweit es auf ihn ankommen kann, zu beheben. Vor dem Auge des Künstlers entsteht die Vision einer einzigen Ruhrland-Komposition: Grünwuchs, Fabrikbauten und Farbakzente lösen einander frei ab, ergänzen sich, steigern sich wechselseitig, bilden ein harmonisches Ganzes. "

Es ist auffallend, daß in diesem Text aus dem Jahre 1952, einem Text, der nahezu alle Topoi vom Ruhrgebiet bündelt, die Revier-Bewohner mit keinem Wort bedacht sind. Doch ist dies sehr typisch für die Auseinandersetzung mit dem Ruhrgebiet als künstlerischem Thema, die bis heute vor allem auf den Umgang mit Technik und Industrie, mit Maschinen, Apparaten und Fahrzeugen, mit Industrieanlagen und Verkehrswegen zielt und sich erst in zweiter Linie mit den Menschen und ihren Lebensbedingungen in der indu-strialisierten Welt beschäftigt. Und wenn der Autor hier als Apologet der Künstler und als Theoretiker ihrer Hervorbringungen die Haltung eines Ingenieurs einnimmt, der das beschriebene "sinnverwirrende Chaos" über-blickt und als Organismus erkennen kann; und wenn er sich zugleich die Künstler den Ingenieuren gleichgestellt wünscht und ihnen zur Aufgabe gibt, wie Ingenieure an der "Ruhrland-Komposition" zu arbeiten und die Produkte der Techniker womöglich zu verbessern; so variiert und entwickelt er den Gedanken weiter mit dem Franz Große-Perdekamp einige Jahre früher der Künstlergruppe "junger westen" ein theoretisches Fundament errichtete. Große-Perdekamp schrieb damals, und diese Sätze sind auch als werbende Botschaft an die Künstler zu verstehen:

"Es geht ihnen darum, die technisierte Zeit, die uns noch nicht lebendiger gei-stiger Besitz geworden ist, in unserer Leben einzuformen. Sie (die Künstler-gruppe, der Verf.) möchte die Diskrepanz in der heutigen Gesellschaft über-winden, die sich nicht nur zwangsläufig hochentwickelter Instrumente be-dient, sondern eine offenbare Freude an formklar durchgebildeten Verkehrs-mitteln, Geräten u. ä. empfindet, in der Kunst dagegen sentimentale Rückerin-nerungen liebt oder nur zu lieben glaubt (...). Die jungen Künstler machen rücksichtslos ernst mit dieser neuen Wirklichkeit (...). (Sie) nehmen das Le-bensgefühl des Industrieraumes, das doch weiterhin beispielhaft für unsere ganze Zeit gesehen werden muß, in ihr eigenes schöpferisches Tun herein, um (...) es künstlerisch zum Ausdruck zu bringen (...). Was hier (...) gemeint ist, hat nichts mit der wohligen Vertrautheit der sinnlich erfahrbaren Natur zu tun. Es ist strenge Gedankenrichtung, klares und kühles Formbewußtsein. So darf es nicht erschrecken, wenn man formulieren möchte: ,Die Künstler des jungen westens sind Konstrukteure (Hervorhebung vom Verf.) der künstlerischen Form (...)."

Wie eng man sich damals das Verhältnis zwischen Kunst und Technik dachte, kam exemplarisch zum Ausdruck in der Ausstellung "Mensch und Form unserer Zeit", die, 1952 in der Kunsthalle Recklinghausen veranstaltet, Kunstwerke und Industrieprodukte in heute geradezu surreal anmutender Weise miteinander konfrontierte. Und daß hier der alte Traum von der Versöhnung von Kunst und Leben durch Technik wieder aktiviert wurde - ein Grundmotiv im übrigen, das bereits von Karl Ernst Osthaus zu Beginn des Jahrhunderts in der Folkwang-Idee im Hinblick auf das Ruhrgebiet als industrialisierter Landschaft entwickelt wurde -, gab der Text unmißverständlich zu verstehen, den Franz Große-Perdekamp und Albert Schulze-Vellinghausen zur Ausstellung verfaßten. Darin wurde den Künstlern gewis-sermaßen ins Stammbuch geschrieben:

"Es ist ihre Aufgabe, nach Kräften Mißverständnisse auszuräumen und für jeden, der optisch einigermaßen sensibel und das heißt also "zugänglich" ist, einigermaßen klarzulegen, wo innerhalb unseres scheinbaren Chaos dennoch so etwas wie Einheit zu entdecken, zumindest zu "wittern " ist. Keine falsche Einheit einer forcierten Harmonisierung oder einer töricht-idealistischen Vereinfachung oder Verharmlosung. Sondern die zu ahnende und zu erkundende Grundfigur einer geistigen Struktureinheit, die auch in dieser scheinbar so planlosen und absurden Gegenwart die Produktionen des menschlichen Geistes begründet und trägt."

Daß es bei so viel Anspruch doch zu handfesten Ergebnissen und nicht bloß zu Sinn-Design kam, hat sicherlich damit zu tun, daß es im Westen zur da-maligen Zeit ohnehin viel zu tun gab und solche "Aufgabenstellungen" eine Funktion hatten auch als Ideologeme des sogenannten Wiederaufbaus. Hier erklärt sich auch, warum es nach dem Kriege gerade im Ruhrgebiet zu einer sagen wir ruhig: ideologischen Aufrüstung vor allem im Bereich der Bildenden Kunst kommen konnte. Denn vor allem im Revier, das durch die kriegsbedingten Zerstörungen in eine technologische Erneuerung gezwungen wurde, war bald erkennbar, daß der sogenannte Wiederaufbau die Chance bot zu einer umfassenden Modernisierung der vorhandenen Bauten und Anlagen, die ohnehin hätten ersetzt oder erneuert werden müssen.

Wurde im Denken von Große-Perdekamp und Schulze-Vellinghausen den Künstlern als Handwerkern/Technikern eine tragende Rolle im gesellschaftlichen Kontext zugewiesen, weil man sie in einer strategisch wichtigen Position zwischen einer sich vollziehenden industriellen Umwandlung der bestehenden Strukturen, dem "Chaos", und einer individuellen Suche nach Sinn und Bestimmung sah und sich von ihnen Bilder erhoffte, die diese Situation zumindest auf den Begriff bringen könnten, so dachten offenbar weder die Mitglieder des "jungen westens" noch deren Theoretiker daran, sich der In-dustrielandschaft als Motiv zuzuwenden (dessen nahmen sich - neben eini-gen eher traditionalistischen Landschaftsmalern - vor allem die Fotografen an) oder die Herstellung von Kunst im durchaus traditionellen Sinn, also als individuell ausgeführte handwerkliche Arbeit, aufzugeben. In dieser Hinsicht wurde erst durch die Gruppe Zero, die in den frühen 60er Jahren das Ruhr-gebiet als Feld für ihre künstlerische Arbeit entdeckte, ein entscheidender Schritt getan. Unbelastet von den ideologischen Problemen des sogenannten Wiederaufbaus sahen Otto Piene, Heinz Mack und Günther Uecker im Ruhr-gebiet die ideale Bühne für ihren Licht und Bewegung thematisierenden künstlerischen Ansatz und gingen, wenn man so will, auf Konfrontations-kurs zu allen Vorstellungen, wie Kunst aus oder für das Ruhrgebiet be-schaffen sein solle.

"Zero entdeckte damals mit dem Ruhrgebiet eine offene Landschaft mit einem unvoreingenommenen, nicht durch Vorurteile verdorbenen Publikum, ,das die Dinge so nimmt, wie sie sind"' (Uecker), schrieb Heiner Stachelhaus 1972, und Zero hatte Erfolg mit vergleichsweise unkonventionellen Aktionen wie der Übernagelung eines Klaviers, 1964 im Pianohaus Kohl in Gelsenkirchen realisiert. Daß jedoch die Zero-Künstler das Ruhrgebiet in der Tat nur als ihr großes Atelier betrachteten, also kein Interesse hatten an einer wie immer vorgetragenen Verbesserung der dort herrschenden Verhältnisse, wurde deutlich an den gigantischen Projekten, die sie im Maßstab der industriellen Bauten - als deren Pendant und nicht als deren Alternative - zu realisieren gedachten. Wenn man von daher bezweifeln muß, daß, wie Heiner Stachelhaus schrieb, "die Zero-Künstler mit ihrem speziellen Interesse am Revier nicht an vordergründigen Verschönerungsoperationen, sondern im wesentlichen daran interessiert (waren), mit ihren Medien die Erlebnisfähigkeit der Menschen im Ruhrgebiet zu steigern ", so blieb andererseits gewiß, daß es ihnen gelang, das lädierte Image des Reviers etwas aufzuwerten und die Aufmerksamkeit auf einzelne seiner "Schönheiten", insbesondere auf technische Gebäude, zu lenken.

Als radikale Quintessenz der skizzierten Ansätze, die Industrielandschaft zum Thema künstlerischer Arbeit zu machen, und als künstlerische Apo-theose der Industrialisierung durch deren umfassende Ästhetisierung kann man schließlich Ferdinand Kriwets "Manifest zur Umstrukturierung des Ruhr-reviers zum Kunstwerk" verstehen (siehe Kasten). In ihm laufen alle bisher angeschlagenen Motive wie in einer großen Kaskade zusammen und werden auf den neuen Nenner, den mit der Kohlekrise einsetzenden, grundlegenden Strukturwandel im Revier, die objektive Voraussetzung für die Möglichkeit der Ästhetisierung bezogen: Konsequenterweise wird daher nicht nur die Landschaft als Kulisse, sondern die gesamte industrielle Struktur des Ruhrgebiets zum der Gegenstand ästhetischen Neubewertung, die Kriwet 1968 entwickelte und deren prognostische Kraft man heute nur bestaunen kann. Denn dreissig Jahre später läßt sich dieses Manifest als Programmzettel für die Inszenierungen der IBA Emscher lesen, und steht man ernüchtert vor der Einsicht, daß mit der IBA - konzeptionell gesehen - im Grunde nicht mehr erreicht wurde, als ein vor einem halben Jahrhundert entworfenes Landschaftsgemälde realiter zu bauen bzw. als Architekturkulisse zu erhalten.

III. Künstlerischen Reflexion der Industrialisierung

Auf der Basis der Erfahrungen von Zero, doch nun aus dem Revier heraus und auf seinen Alltag bezogen, trat 1969 die Künstlergruppe B 1 mit dem Ziel auf den Plan,

"einen Prozeß zu initiieren, der die grundlegende Umstrukturierung ihrer Um-welt mit den Materialien und Möglichkeiten eben dieser Umwelt im Sinne von optimaler Funktionalität, maximaler Ästhetik und größtmöglicher Humanität zum Ziel hat." (Peter Kress, Theoretiker der Gruppe 1972)

Man kennt sie nun schon, die Grundmotive der künstlerischen Auseinan-dersetzung mit dem Ruhrgebiet, doch kamen mit dieser Initiative einige neue Aspekte hinzu. Zunächst - und dies brachte B 1 in aller Munde - konnte die Gruppe ihr Engagement für das Ruhrgebiet im besonderen überzeugend darstellen durch ihren Namen, den wohl bekanntesten Straßennamen der Bundesrepublik, und als Name zugleich ein Synonym für die Verkehrspro-bleme und aus dem Verkehr erwachsenden Belastungen für die sogenannte Umwelt. Mit diesem kommunikativen Coup traf B 1 einen Nerv, in dem sie einen Nerv, d i e Transportanlage in der Bundesrepublik, thematisierte und gedanklich besetzte. Weiterhin trat die Künstlergruppe B 1 erklärtermaßen als Alternative zu bestehenden Kunststilen, namentlich dem Informell, dem Tachismus und dem Abstrakten Expressionismus, also dem Programm der schon 1958 aufgelösten Gruppe "junger westen", auf, empfahl sich aber gleichzeitig als Arbeitsgemeinschaft von Künstlern, die "eher ingenieuren und technikern vergleichbar", "ihre konstruktiven progressiv-positionen moderner kunst" (Manifest) entwickeln wollten. Schließlich gab sich B 1 als eine Interessengemeinschaft zu erkennen,
"die 'gruppe' oder 'schule' im herkömmlichen sinn weder sein will noch kann, die weder eingeengt ist vom zwang einer für alle beteiligten verbindlichen ideologie, (sondern) besteht in einem umstand rein geographischer natur (...). als ausstellungskollektiv suchen sie die resonanz der öffentlichkeit und der kritik, um, was sie als einzelgänger nicht zu leisten vermochten, darauf auf-merksam zu machen, daß eine zwingende wechselbeziehung zwischen kon-struktiv-künstlerischen bestrebungen und industrieller umwelt besteht (und) entlang der B 1 aktuellste tendenzen der gegenwartskunst auf hohem niveau existieren." (Manifest)

Tritt, wie schon diese Textausschnitte erkennen lassen, bei B 1 das Motiv, sich durch die Bildung einer Gruppe mehr Gehör zu verschaffen, wenn man also will: ein taktisches Motiv gleichrangig neben die inhaltliche Vorstellung, so bleibt allerdings festzuhalten, daß die Gruppe B 1 mit ihren starken Worten einmal mehr die Vorstellung aufnahm, wonach Kunst und Leben miteinander versöhnbar und zu einer Einheit - nun im Konstruktiven - zu bringen seien. Dazu kam erstmals ein unüberhörbar aggressiver, quasi klas-senkämpferischer Unterton gegen die etablierten Kunstzentren, den Kunst-markt wie die Warenfunktion von Kunst überhaupt, der dem Image der Gruppe nicht förderlich war und ihr frühes Scheitern signalisierte. Trotz ih-rer kurzen Geschichte - B 1 trat im Ruhrgebiet genau genommen nur zwei-mal wirksam auf (1969 in der Städtischen Galerie Oberhausen und bei einer spektakulären Fahrt auf der B 1 im gleichen Jahr, bei der der Kunstboule-vard B 1 ausgerufen wurde) - hatte die Gruppe nachhaltige Wirkung im Re-vier, und dies vor allen, weil ihre Mitglieder sich erstmals dem Ruhrgebiet als Produktionsstätte durch zum Beispiel die - wenn auch formale - Übernahme bestimmter industrieller Techniken oder Werkstoffe zugewendet hatten, im Ruhrgebiet blieben und hier arbeiteten.

Dies ist festzuhalten. Denn dem Ruhrgebiet hat es nie an kreativem Potenti-al: an Menschen, die ihre Erfahrung unter industrialisierten Lebensumstän-den künstlerisch zu reflektieren verstehen, gemangelt, wohl aber an einem Umfeld, das bereit gewesen wäre, solche Reflexionen auf- und ernst zu neh-men: Noch keiner hat gezählt, wie viele der heute bekannten, in Köln, Berlin, München oder sonst wo lebenden Künstlerinnen und Künstler aus den Städten des Ruhrgebiets stammen - und sie in jungen Jahren verließen, weil sie mit ihren Werken auf oftmals blankes Unverständnis, wenn nicht aggres-sive Ablehnung, geschweige denn interessierte Käufer stießen. Diesen Künstlern gemeinsam war und ist aber, daß sie in der Industrielandschaft nur ein oberflächliches Motiv erkannten, und sich statt dessen, wie immer im Einzelnen, mit der Veränderung der Wahrnehmung und des Bewußtseins durch die und in Folge der Industrialisierung der Lebensverhältnisse beschäftigten. Ihre Produktionen fanden aber deshalb keine Aufnahme und Anerkennung, weil sie, allgemein gesprochen, das Bedürfnis der breiten Bevölkerung nach Sicherheit, nach Sicherheit wenigstens in den wenigen, von der Gefährnissen der Produktion und Reproduktion (noch) nicht ergriffenen Bereichen, nicht nur nicht bedienten, sondern vielmehr auch hier 'alles in Frage zu stellen und zu kritisieren' schienen. Solche künstlerischen Äußerungen waren zwar nicht nur im Ruhrgebiet, hier aber in besonderer Weise allen Lippenbekenntnissen der Politiker zum Trotz nicht gefragt, und die Ablehnung, die sie erfuhren, konnte in den Städten entlang der Ruhr die kleine, allerdings kampferprobte und zuweilen von Museumsleuten angeführte Gruppe von Menschen nicht kompensieren, die mit Hilfe der Kunst der Realität ins Auge sehen wollten.

Eben dies war auch der Ansatz zweier größerer Essays in Ausstellungsform über den Strukturwandel im Städtebau und dessen soziale Folgen, die Die-thelm Koch und ich unter dem Titel "Umbau der Stadt: Beispiel Bochum" (1975) und "Über die moderne Art zu leben - Rationalisierung des Lebens in der modernen Stadt" (1977) im Museum Bochum realisieren konnten. Ich darf sie hier erwähnen, weil sie, obwohl durchaus Publikumserfolge und in Fachkreisen ernsthaft diskutiert, von Seiten der Politik aus den oben ge-nannten Gründen als Nestbeschmutzung eingestuft wurden und daher mehr oder weniger folgenlos blieben: die Botschaft, sich den eigenen Lebensum-ständen zuzuwenden und an ihrer Verbesserung zu arbeiten, war zumal als 'künstlerische' Äußerung in den 70er Jahren nicht gefragt. Mehr an kon-kreten Nachwirkungen, wenn auch in der IBA-Euphorie vergessen, hatte womöglich das Symposium "Das Revier - Motiv und Motivation", 1983 auf der Zeche Carl in Essen veranstaltet. Dort setzte man sich erstmals mit einer konkreten Situation, der Zeche Carl, auseinander und arbeitete an dieser Ruine einige wesentliche Momente der Bergbaugeschichte des Ruhrgebiets noch einmal - mit künstlerischen Mitteln ab. Die künstlerischen Eingriffe hatten sich bei dieser Veranstaltung an der gegebenen Situation, an den Ge-bäuden und ihrer ehemaligen Funktion, an Resten und Relikten bergbauli-cher Tätigkeit und an den Arbeitsspuren einiger Generationen von Bergleu-ten zu messen, und dies verhinderte voluntaristische Übergriffe ebenso wie die Inszenierung großtechnischer Spielereien, wie sie für die meisten IBA-Projekte kennzeichnend sind. Nachfolgende Projekte, wie zum Beispiel das leider nur Konzept gebliebene Projekt "Grenzüberschreitung" 1984/85 im Kunstverein Ruhr oder die Ausstellungen im Rahmen der Landesgarten-schauen, dienten bestenfalls der Profilierung einzelner künstlerischer Posi-tionen und konnten im Ganzen allenfalls Achtungserfolge erzielen, mögli-cherweise gerade auch deshalb, weil sie sich einzelner Motive des Ruhrge-biets kritisch annahmen. Denn mit Beginn der achtziger Jahren war Kunst, die sich auf bestimmte Inhalte bezog, nicht gefragt, und im Besonderen nicht von jener Gruppe Menschen, die den Strukturwandel im Ruhrgebiet aktiv betrieben.

Spätestens in dieser Zeit wurde das Vorurteil, im Ruhrgebiet sei künstlerisch nichts los, manifest und schielte man nach außen, in die sogenannten Kunstmetropolen, namentlich nach Köln, wo sich das in sechziger und sieb-ziger Jahren aus dem Ruhrgebiet vertriebene kreative Potential entfaltet hatte und nationale, wenn nicht internationale Anerkennung fand. Doch wurde dieser unbemerkte Export nicht reflektiert oder der Versuch gemacht, ihm gezielt gegen zusteuern. Vielmehr blieb, bis in die jüngste Zeit, künstle-rische Arbeit in den Augen des Gros der Bevölkerung und der Politiker und Manager des Ruhrgebiets eine bestenfalls überflüssige Tätigkeit und wurde höchstens da ernst genommen, wo sie als Kulturwirtschaft, also als Unter-nehmung auftrat, die sich an den ihnen gewohnten Maßstäben, an Zahlen-werken, messen und eine qualitative Einschätzungen vermeiden ließ. Aus dem Fehlen von autochtonen Maßstäben und dem Mut zur (öffentlichen) Re-flexion erklären sich aber nicht nur die vielen teuren Flops, die man sich im Ruhrgebiet von sogenannten Großen Namen immer wieder andrehen ließ, sondern auch die für das Denken in der Region so typische Gleichsetzung von kultureller Infrastruktur und Kultur, nicht zuletzt aber die Vorstellung, Kunst und Kultur ließen sich wie ein technisches Projekt entwickeln und dann umstandslos für einen bestimmten Zweck funktionalisieren.

IV. Kultur durch Kommunikation

An den zahllosen Bildern, die uns in den Prospekten des KVR und der IBA Emscher sowie der Schar ihrer Filiationen auf den Tisch gepackt werden, fällt auf, daß nach wie vor der Blick von Außen, nun als touristischer Blick verklärt, das Bild vom Ruhrgebiet bestimmt und vor allem wiederum die In-dustrielandschaft, sei es als gewissermaßen vom Ruß gereinigte Industriekul-tur oder als wilde Industrienatur von den neu gewonnenen Aussichtspunkten in Szene gesetzt ist: Wie eh' und je' schweift ein beherrschender, sich jetzt an den Landmarken orientierender und über sie das Gesehene verdichtender Blick über das Ruhr-Land und übersieht nicht nur die Brachen, die Ver-kehrsanlagen und übriggebliebenen Produktionsanlagen, sondern ganze Stadtteile. Dem entspricht, daß die IBA-Emscher und ihre Operationalisierung in der 'Route der Industriekultur' offenbar wenig bekümmert war über die Tatsache, daß die von ihr definierten Monumente nur in Ausnahmefällen innerhalb der Lebenszentren des Ruhrgebiets liegen, vielmehr die obsolet gewordene Montanstruktur zwischen ihnen als neue Zentren festschreiben: Ist es das Verdienst der IBA-Emscher, über die Musealisierung und Selbst-ausstellung ganzer Industrieanlagen die allwaltende Transitorik im Ruhrgebiet durchbrochen und dem Ruhrgebiet endlich ein eigenes heritage gesichert zu haben, so bleibt der Preis doch hoch. Denn mit diesem heritage, sollte es denn nicht nur von Touristen, sondern auch von der Bevölkerung angenommen werden - was noch keineswegs ausgemacht ist -, wird eine neue Dynamik, ihr sichtbares Zeichen das CentrO, in Gang gesetzt, die nun die unmittelbaren Lebenszusammenhänge der Menschen betrifft.

Dennoch und deshalb: Wenn das Ruhrgebiet tatsächlich ein Kulturgebiet werden und eine seiner Größe und seinem Potential entsprechende Wirkung entfalten soll, dann müssen seine vermeintlichen Schwächen, allen voran seine Polyzentralität, seine in jeder Hinsicht bestehende Vielfältigkeit und seine Unübersichtlichkeit gezielt als das ausgespielt werden, durch das sich diese Stadtlandschaft von anderen unterscheidet. Um was wir Metropolen wie London, New York, Paris oder Berlin und nicht zuletzt noch Köln benei-den, das mag zwar in erster Linie deren eindrucksvolle Architektur sein, ist jedoch gleich danach - und womöglich wichtiger - das überaus enge kom-munikative Geflecht, das diese Städte entwickelt haben und das sich auch dem Außenstehenden unmittelbar mitteilt. Diese Urbanität, diese Weltläufig-keit auch im Kleinen, das Gefühl, innerhalb eines großen Zusammenhangs zu stehen, das ist es, was dem Ruhrgebiet fehlt. Dieses Gefühl und dieses Wissen kann aber nicht durch eine jetzt wieder in typischer Montanmenta-lität geplante kulturelle Meta-Infrastruktur erzeugt, sondern nur durch eine systematisch angestiftete, immer wieder angeregte und unterstützte Kom-munikation zwischen den Menschen innerhalb des Ruhrgebiets entwickelt werden: Erst wenn man es sich beispielsweise als Essener nicht mehr leisten kann, zu ignorieren, was in Duisburg und Hagen im eigenen Interessensfeld passiert und man aufgrund der Kenntnis des Publikums gezwungen wird, die eigene Arbeit wie immer auf die anderer in anderen Städten in der Region zu beziehen; erst wenn man davon ausgehen kann, das die eigene Produkti-on kontinuierlich beobachtet und mit der anderer verglichen wird und man sich nicht im Schatten eines Kirchturms verkriechen oder der Illusion hin-geben kann, man sei ganz allein auf der Welt; also erst, wenn das Ruhrge-biet, wie die genannten Städte, von einem dichten, schnellen und kritischen Kommunikationsnetz durchzogen und eine Ruhrgebiets-Öffentlichkeit ein-zelne Initiativen reflektiert, kommentiert und bewertet: dann kann die Urba-nität, die Atmosphäre und das anregende geistige Klima entstehen, das wir Ruhrgebietler wie die Zugereisten immer noch vermissen. Konkrete Vor-schläge, wie man dieses Projekt in Gang bringen könnte, können beim Autor abgerufen werden.

Kasten:
Manifest zur Umstrukturierung des Ruhrreviers zum Kunstwerk

RETTET DAS REVIER

Künstler aller Disziplinen vereinigt euch zur künstlerischen Revolution der konstruktiven Phantasie gegen die Gefahr einer politischen Radikalisierung durch einen destruktiven Fanatismus im Ruhrrevier.
Schluß mit der falschen Romantisierung der Ruhr-Tristesse.
Schluß mit der sentimentalen Schrebergarten- und Brieftaubenidylle. Schluß mit dem unproduktiven Mythos vom Steinkohlebergbau.
Das Ruhrrevier ist auf Kohle gebaut.

Die Kohle ist unrentabel geworden.
Sie unter Tage abzubauen, um sie über Tage aufzuschütten ist wirtschaftlich ruinös. Soll aus dem Ruhrrevier kein Ruinenrevier werden, muß es sich verändern.

Als größte künstliche Landschaft Europas hat das Ruhrrevier die Chance zum. größten Kunstwerk der Welt zu werden.
An diesem Projekt einer Komposition aus Städten, Straßen, Verkehrswegen, Seen, Wäldern etc. sollen Maler, Bildhauer, Architekten, Städteplaner, Tech-niker, Ingenieure, Psychologen, Soziologen, Politiker, Gewerkschaftler.
Dichter, Musiker, Filmer, Regisseure, Arbeiter, Unternehmer und all' jene mitarbeiten, deren schöpferische Phantasie über die Mauern der Museen, Bibliotheken und Konzertsäle hinausreicht.

Neben einer Wirtschaftlichen
STRUKTURREFORM
gewinnt das Ruhrrevier durch eine künstlerische.
Die stillgelegten Schacht- und Förderanlagen, Hochöfen, Silos, Maschinen und Fabriken erlauben zum erstenmal deren ästhetische Betrachtung. Dem Vorurteil von der Häßlichkeit der Industrieanlagen sollen die Künstler dieses Landes tatkräftig entgegenwirken.
Die künstlichen Berge, Hügel, Aufhäufungen der Kohlehalden sollen zu far-bigen, leuchtenden, goldenen, silbernen Pyramiden, Kuben und Kegeln werden.
Brennende Hochöfen verwandeln das Ruhrrevier zusammen mit Lichttür-men, illuminierten Ölraffinerien, Projektionsanlagen in eine künstlerisch programmierte Komposition aus Licht und Bewegung.
Stillgelegte Zechen werden zu Vergnügungslabyrinthen, mobilen Theatern, endlosen Konzerträumen unter Tage usw.. Über Tage ermöglicht ein ausgedehnter Hubschrauberservice die Betrachtung des größten Kunstwerks der Welt von oben. Den unterschiedlich gefärbten Rauch der noch betriebenen Schlote zerteilen Riesenscheinwerfer in ständig variierende Segmente.
Das rußige Konglomerat der Arbeitersiedlungen wird in farbige Parzellen aufgeteilt. Mit Leuchtfarbe angestrichene Häuser, Plätze und Straßen inten-sivieren das Nachtleben, wo es gewünscht wird.
Der Himmel über der Ruhr wird nicht nur blau. sondern auch rot und gelb und grün und weiß und grau und lila. Taubenzucht und Fußballsport blei-ben nicht die einzigen Hobbys der Ruhrkumpel in den klimatisierten Großräumen der nahen Zukunft.
Parallel zur Ansiedlung neuer Industrien im Revier erfolgt dessen partielle Umwandlung in eine Unterhaltungslandschaft zwischen Duisburg und Dortmund, die den vielfältigen Freizeitbedürfnissen der hier lebenden Men-schen je nach Maßgabe der lokalen Verhä0ltnisse Rechnung trägt.

Las Vegas und die Alpen sind nichts gegen das
RUHR-KUNSTWERK
Die Umwandlung der größten künstlichen Landschaft Europas in eine künstlerische bedeutet zugleich ihre Erschließung für den Internationalen Tourismus.

Zur Verwirklichung dieses Projekts sollte eine Arbeitsgemeinschaft gegrün-det werden, in deren Aufsichtsrat Vertreter aller interessierten Verbände und Institutionen, Heimatverbände, Landschaftsverbände, Ruhrsiedlungsver-band etc. zu entsenden wären .
Die Ausarbeitung von konkreten Plänen sollte durch ein von der Landesre-gierung Nordrhein-Westfalen beauftragtes Künstler-Team in Zusammenar-beit mit den kommunalen Verwaltungen erfolgen.
Mit der Probe auf's Exempel könnte in Recklinghausen im Zusammenhang mit den Ruhrfestspielen oder in Oberhausen im Zusammenhang mit den Westdeutschen Kurzfilmtagen oder an jedem anderen Ort zu jeder Zeit be-gonnen werden.

glückauf
Düsseldorf, 22.01..1968 Ferdinand Kriwet

Text: Dr. Michael Fehr, veröffentlicht in: "Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur", Heft 1, Essen 2000, 44-50

Dr. Michael Fehr ist Direktor des Karl Ernst Osthaus- Museums der Stadt Hagen

 

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